Religionsverdrängung durch übermäßige Nutzung der Social Media

Ramin Rowghani

 Digitaler Glaube? Wie das Internet religiöse Zugehörigkeit transformiert

 

Einleitung
Die fortschreitende Digitalisierung prägt nicht nur den Alltag der Menschen, sondern greift tief in kulturelle und gesellschaftliche Prozesse ein. Ein besonderer, bisher jedoch wenig beachteter Bereich betrifft die Veränderung religiöser Praxis und kirchlicher Gemeinschaftsbindung im digitalen Zeitalter. Eine jüngere Untersuchung der Baylor University weist darauf hin, dass intensive Internetnutzung mit einer abnehmenden kirchlichen Verankerung einhergeht. An die Stelle der klassischen Einbindung in Glaubensgemeinschaften tritt zunehmend die Konstruktion individueller Glaubenssysteme – ein Vorgang, den Paul K. McClure als „religiöses Basteln“ bezeichnet.
Diese Arbeit nimmt das Spannungsfeld zwischen digitaler Informationsvielfalt und theologischer Orientierung näher in den Blick. Es soll erörtert werden, inwiefern digitale Kommunikationsmittel zur Individualisierung religiösen Selbstverständnisses beitragen, welche Aufgabe traditionellen Institutionen dabei noch zukommt und welche gesellschaftlich-theologischen Implikationen dieser Wandel birgt. Auch die Wechselwirkung anderer Medien, insbesondere des Fernsehens, mit religiöser Praxis wird thematisiert.

 

1. Digitalisierung und der Wandel religiöser Zugehörigkeit

Der digitale Zugang zu Informationen verändert den Umgang mit religiösen Inhalten grundlegend. Während frühere Generationen ihren Glauben maßgeblich im Kontext familiärer Tradierung und institutioneller Autorität empfingen, eröffnet das Internet heute eine fast unbegrenzte Vielfalt spiritueller, religiöser und weltanschaulicher Deutungsangebote.
Studien, etwa jene der Baylor University, verdeutlichen, dass diese Vielfalt nicht nur informativ, sondern transformativ wirkt: Glaubende verstehen sich zunehmend nicht mehr als passive Glieder einer Institution, sondern als eigenverantwortliche Gestalter ihrer Spiritualität. McClure spricht in diesem Zusammenhang von einem „Basteln“ des Glaubens: Menschen kombinieren Elemente aus verschiedenen religiösen Traditionen, Praktiken und Ideen, oftmals auch in widersprüchlicher Form. Hierdurch verschwimmen die Grenzen zwischen konfessioneller Zugehörigkeit, esoterischen Strömungen, säkularen Ethiken und individueller Religiosität.
Dieser Trend wird durch die religionssoziologische Theorie der „Patchwork-Religiosität“ gestützt (Knoblauch, Luckmann). Religion erscheint nicht länger ausschließlich als kollektives Dogma, sondern zunehmend als privates Konstrukt, das individuell aktualisiert und der Lebenswirklichkeit angepasst wird.

 

2. Der Einfluß digitaler Medien auf religiöse Praxis

Digitale Medien transformieren nicht nur die religiöse Zugehörigkeit, sondern auch die gelebte Praxis. Studien deuten darauf hin, dass sowohl Fernsehen als auch Internet als „zeitbindende“ Technologien klassische kirchliche Aktivitäten verdrängen können.
Dies bedeutet jedoch nicht zwingend eine Abnahme von Spiritualität, sondern vielmehr eine Verlagerung ihrer Ausdrucksformen. An die Stelle gemeinschaftlicher Liturgie, regelmäßiger Gebete oder institutionellen Engagements tritt zunehmend eine private, mediengestützte Religiosität: digitale Predigten, Podcasts, Online-Gottesdienste, spirituelle Apps oder virtuelle Glaubensforen erweitern das Spektrum religiöser Erfahrung.
Während das Fernsehen primär konsumierend wirkt, eröffnet das Internet interaktive und partizipative Möglichkeiten, die eine individuelle Auswahl sowie Gestaltung religiöser Inhalte begünstigen – ein wichtiger Treiber für den Trend der selbst zusammengebastelten Spiritualität.

 

3. Religionssoziologische Perspektiven: Institutionelle Bindung und ihre Erosion

Aus religionssoziologischer Sicht bedeuten diese Entwicklungen eine Schwächung des klassischen kirchlichen Bindungsgefüges. Während Émile Durkheim Religion als kollektives Band und Garant gesellschaftlicher Kohäsion verstand, scheint sich in einer digitalisierten Individualgesellschaft die Bindekraft kirchlicher Institutionen zu erodieren. Der Bedeutungsverlust der Kirchen in Europa kann nicht allein säkularisierungstheoretisch erklärt werden, sondern ist auch auf die Konkurrenz alternativer spiritueller Deutungsmuster zurückzuführen, die online problemlos verfügbar sind.
Die Daten der Baylor-Studie verweisen klar darauf: intensive Internetnutzung korreliert mit einer geringeren kirchlichen Mitgliedschaft. Dogma, Ritus und kirchliche Autorität werden zunehmend durch die Selbstverantwortung individueller Glaubensgestaltung ersetzt. Diese Dynamik prägt auch die religiöse Sozialisation: Kinder und Jugendliche wachsen mit einem pluralen Angebot auf, in dem Glaube nicht länger selbstverständlich vererbt, sondern bewusst gewählt oder abgelehnt wird – eine Entwicklung, die fließendere Formen religiöser Identität hervorbringt.

 

4. Chancen und Herausforderungen einer digitalisierten Religionslandschaft

Die zunehmende Individualisierung religiöser Praxis eröffnet sowohl Chancen als auch Herausforderungen. Einerseits ermöglicht die Digitalisierung einen stärkeren Bezug des Glaubens zur Lebenswelt, schafft niedrigschwellige Zugänge und eröffnet eine neue Form spiritueller Partizipation. Religion wird persönlicher, vielfältiger und für viele überhaupt wieder erfahrbar. Andererseits droht der Verlust theologischer Tiefe und gemeinschaftlicher Verbindlichkeit: Ohne kirchliche Korrektive und systematische Reflexion läuft Spiritualität Gefahr, zu einem konsumistischen Lifestyle zu verflachen.
Theologisch stellt sich daher die Frage nach der bleibenden Rolle der Institutionen. Kirchen sind gefordert, ihre Weisungskompetenz und ihre geistliche Begleitung auch im digitalen Raum fruchtbar werden zu lassen – sei es durch Online-Gottesdienste, digitale Bildungsangebote oder Seelsorgeplattformen. Gleichwohl bleibt der strukturelle Rückgang kirchlicher Bindung eine Realität, zumindest in Deutschland.

 

Schlußbemerkung

Die Digitalisierung greift tief in das religiöse Leben ein und verändert sowohl die Formen kirchlicher Zugehörigkeit als auch die Praxis des Glaubens. Die Untersuchung der Baylor University legt nahe, dass intensive Internetnutzung mit einer abnehmenden Bindung an kirchliche Institutionen einhergeht. Stattdessen etabliert sich eine neue Form von Religiosität.
Ob dies zur Verflachung religiöser Praxis oder zu einer Erneuerung des gelebten Glaubens führt, hängt maßgeblich von der Gestaltung theologischer und pastoraler Angebote im digitalen Raum ab. Klar ist: Glaubensgemeinschaften und Kirchen müssen auf diesen Wandel reagieren – nicht, um der Technik zu huldigen, sondern um auch in einer mediatisierten Welt als Orte geistlicher Orientierung, Glaubenstiefe und gemeinschaftlicher Hoffnung erfahrbar zu bleiben.

 

Literatur

 

  • Baylor University (2023). Study: Internet use linked to decline in religious affiliation. Abgerufen am 02.10.2025 von: https://www.baylor.edu

  • McClure, P. K. (2023). Tinkering with Religion: Digital Media and Spiritual Individualization. Journal for the Scientific Study of Religion.

  • Knoblauch, H. (2009). Populäre Religion: Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Campus Verlag.

  • Luckmann, T. (1967). Die unsichtbare Religion. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

  • Manzey, S. (2018). Social Media: Menschen bauen sich eigene Religion:  https://www.pressetext.com/news/20180122001
  • Pew Research Center (2015). Religion and Electronic Media. Washington, D.C.

   

Ramin Rowghani, Augustinus-Akademie, September/2025

   

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Felix qui potuit rerum cognoscere causas  

 

 

Gemäß dem Vergilschen Motto bietet die Augustinus-Akademie ein Studienforum zur geistigen Neuorientierung, Vertiefung eigener Schwerpunkte und Erweiterung und Ergänzung vorhandener (Er-)Kenntnisse.  Viele Gelehrte sind angefüllt mit einer selbst erarbeiteten Wissenschaft, oft erweisen sie sich aber als ungeeignet, durch ihr Wissen einen besonderen Eindruck auf die Mitmenschen zu machen, also ihr Wissen adäquat weiterzugeben. Selbst Kult-Wissenschaftler Albert Einstein gehörte zu solchen. Als lehrender Professor an  der Vorgängeruni der Humboldt-Universität versagte er komplett. Es gibt nicht wenige Gelehrte, die ihr geistiges Werk für sich behalten oder es nur im kleinen Kreis präsentieren, sie gelten als "Privatgelehrte". Andere drängt es zur Arbeit am Schreibtisch und späteren Publikationen, von denen sich hier durch kleine oder größere wissenschaftliche Aufsätze einige wiederfinden. Im wissenschaftlichen Austausch kann es es anstehen, die Rede- und Lehrkunst zu erlernen. Vom stillen Leser und Lerner entwickelt man sich zum sozial denkenden Wissenschaftler, der in der Studiengruppe seine Position hat, Wissen weitergibt und annimmt. 

 

Ästhetik-Professor Bazon Brock findet eine ganz eigene Definition von "Akademie":

 

"Die Akademie ist der Versuch, eine Gemeinschaft zu bilden, die dem Academus entspricht, eine Akademie ist ein Zusammenschluß von Menschen, die sich in anstrengenden Zeiten, vornehmlich in Zeiten des Analphabetismus und der allgemeinen Zerstreuung durch kriegerische oder sonstige evolutionäre Prozesse wechselseitig garantieren, daß das, was sie tun, sinnvoll ist. Wir schreiben, wir malen, wir musizieren, wir komponieren und spielen Theater.

 

D.h. eine Akademie wäre ein Zusammenschluß von Menschen, die sich als Schreiber garantieren, daß das Schreiben einen Sinn hat, weil es Leute gibt, die es lesen: nämlich alle anderen Mitglieder der akademischen Gemeinschaft, denn das ist sehr sinnvoll, wenn wir zur Gemeinschaft des akademischen Typs gehören; dann übernehmen wir die Verantwortung dafür, daß Schreiben, Musizieren, Malen sinnvoll von den Malern, Schreibern, Komponisten betrieben werden kann, weil es Leute gibt, die lesen, betrachten, die zuhören und zwar wirklich auf der Ebene der Gleichwertigkeit  des Rezipienten zum Produzenten.

 

 Das hat eine sehr mäßigende und erzieherische Maßnahme, nämlich wenn wir 100 Akademiker in einer  Gemeinschaft hätten, dann könnte jeder Schreiber, um eine Seite zu publizieren nur die Möglichkeit, gelesen zu werden, einklagen, indem er 99 Seiten seiner Kollegen liest.

 

Es ist nur derjenige "Maler", der würdigt, was andere gemalt haben, sonst ist es sinnlos, Maler zu sein. Also sind Akademien heute dringender als je zuvor, Zusammenschlüsse von Leuten, die die Sinnhaftigkeit ihres eigenen Tuns in aller gutsinnigsten Weise begründet haben möchten: diejenige Vergesellschaftung, in der man sich gegenseitig Sinnhaftigkeit garantiert."

 

                     Prof. Dr. Bazon Brock: Kunst als unabdingbare Kritik an der Wahrheit, Vortrag vom 29. Januar 2014

                                                                                                  Bazon Brock ist Rektor der DENKEREI in Berlin SO36